Rolle und Funktion einer „Ana“ im Alevitentum

Rolle und Funktion einer „Ana“ im Alevitentum

Aynur Kücük

Um die Rolle und Funktion einer Ana näher beschreiben zu können, werde ich zunächst am Beispiel meiner eigenen Biographie in die Thematik einführen und schließlich die Inhalte meiner Ausführungen um alevitische Glaubensgrundsätze ergänzen.

Als Jugendliche wirkte ich im Alevitischen Kulturverein in Rheda-Wiedenbrück mit. Spä­ter, mit dem Studium und dem damit verbundenen Umzug, landete ich in Münster in Westfalen. Dort angekommen und auf der Suche nach Anschluss stellte ich mir die Fra­ge, ob es auch in Münster einen Alevitischen Verein gibt. Nach kurzen Recherchebe­mühungen stellte sich heraus, dass Münster in der Tat keinen Alevitischen Verein hat.

Neben dem tiefen Bedauern, in Münster keinen Alevitischen Verein gefunden zu haben, hatte ich gleichzeitig das Glück, durch Uni- und Studentenwohnheimkontakte einige Aleviten, die sich gleichfalls wegen des Studiums in Münster aufhielten, kennenzuler­nen. In dieser Gruppe fanden wir uns zu einer Studenten-Initiative zusammen und be­gannen, uns für die alevitischen Belange im weitesten Sinne zu engagieren. Wir trafen uns regelmäßig mindestens zweimal wöchentlich.

Das eine wöchentliche Treffen war öffentlich und fand regelmäßig in den Räumen eines interkulturellen Zentrums für Studenten statt. Durch Kleinanzeigen in der gängigen Wo­chenschau und weitere sich im Laufe der Zeit ergebende Kontakte zu Aleviten und am Alevitentum Interessierten wurde die Runde größer. Im Laufe dieser Zeit veranstalteten wir Leseabende, Diskussionsrunden zu aktuellen und vergangenen politischen Themen, Treffen zu alevitischen Themen und vieles mehr. Im Rahmen der Initiative hatten wir sogar die Idee, eine kleine Broschüre/Zeitschrift zum Thema Alevitentum in deutscher Sprache zu veröffentlichen. In der Tat schrieben zwei liebe Freunde und ich an dieser kleinen Broschüre/Zeitschrift über verschiedene alevitische Themen, druckten das Heft­chen in Eigenregie in einem Copy-Shop und verteilten es. Ferner hatten wir das große Glück, dass einer unserer Mitgründer und aktivsten Mitwirkenden ein hervorragender Saz-Spieler ist und wir und auch andere in den Genuss eines regelmäßigen Saz-Unterrichts kamen.

Die gesamte Arbeit wurde so intensiv und lebendig vorangetrieben, dass in der immer größer werdenden Gruppe der Wunsch nach einem richtigen Vereins aufkam. Also be­suchten meine beiden Freunde und ich, manchmal auch gemeinsam mit einigen aleviti-schen Bekannten, alevitische Familien und erkundigten uns nach dem Bedarf an einem Alevitischen Verein. Die besuchten Familien waren begeistert von der Idee, einen Alevi-tischen Kulturverein gründen zu können und wollten hierbei sogar mitwirken. Kurz nach der Gründung des Alevitischen Vereins in Münster verließen die zwei Freunde Münster, sodass ich neue Aufgaben in einem anderen Rahmen, damit ist der Vorstand gemeint, übernahm.

Drei Jahre nach Gründung des Vereins bin ich nun als Vorsitzende des Geistlichenrates im Verein aktiv. Daneben blieb ich dem Alevitischen Verein in Rheda-Wiedenbrück über die gesamten Jahre als treues und aktives Mitglied erhalten.

Meine aktuellen Aufgaben und Tätigkeiten in beiden alevitischen Vereinen sind unter­schiedlich zu betrachten. Der Verein in Rheda-Wiedenbrück ist ein Verein mit etablierten Strukturen. Vorstand und Mitglieder kennen alevitische Glaubensinhalte und das Ge­meindeleben sehr genau und sind in der Praktizierung der alevitischen Glaubensinhalte erfahren. In Münster hingegen wurden wegen der Migration und der Tatsache, dass es nicht einmal einen Alevitischen Kulturverein, geschweige denn einen Austausch von Aleviten untereinander gab, welche zur Praktizierung von alevitischen Glaubensinhalten beitragen könnten, viele Grundbausteine des alevitischen Glaubensweges vernachläs­sigt.

Dazu zählt in erster Linie auch die Nicht-Pflege des Pir-1 und Talip-Verhältnisses, wel­ches den größten Anteil daran hat, dass der alevitische Glaube nicht entsprechend ge­lebt werden konnte. Insbesondere Jugendliche der dritten Generation sind vielen aleviti-schen Glaubensinhalten fremd. Die Migration insgesamt hat bei Alt und Jung dazu bei­getragen, dass sich das alevitische Glaubensverständnis und die alevitische Lebens­weise zurückgebildet haben. Eine Neustrukturierung durch Alevitische Kulturverei-ne/“Cem-Häuser“ (religiöse Gemeinden) in Europa und insbesondere auch in Deutsch­land hat zumindest dazu beigetragen, dass Gleichgesinnte eine Chance zu einem Mitei­nander erhalten haben.

Da die Aleviten in Münster allerdings nicht einmal über ein „Cem-Haus“ bzw. einen Kul­turverein verfügten, war ihnen auch das Wesen eines Gemeindelebens fremd. Die Alevi­ten in Münster waren sich weitgehend unbekannt. Viele, die sich schon oft begegnet sind und darüber hinaus miteinander in Unterhaltungen und sogar in Geschäftsbezie­hungen zu tun hatten, wussten nicht von der religiösen Identität des Anderen. Offen­sichtlich war es tabu, die eigene religiöse Zugehörigkeit zu offenbaren und nach der religiösen Identität des Anderen zu fragen. Ein weiteres Ergebnis der Verheimlichung der eigenen Identität hatte zur Folge, dass ein Großteil der Aleviten in Münster sich vom

Glauben entfremdet hatte und trotz des Umgangs miteinander die religiöse Identität des Nächsten unbekannt blieb, hier wurde offensichtlich die „Takiye“2 angewandt.

Der Verein eröffnete nun erstmals die Möglichkeit des Kennenlernens, des Miteinanders und der religiösen Entfaltung. Dadurch entwickelte sich der Verein in Münster zu einer Art Begegnungsstätte mit vielen verschiedenen kulturellen, religiösen und sozialen An­geboten. Die Menschen und insbesondere auch die Kinder hatten das erste Mal Gele­genheit von ihrer Herkunft und dem Hintergrund ihrer Lebensweise und ihrer doch so „anderen“ Denkweise zu erfahren sowie bekannte Denkweisen und Handlungsmuster zu prüfen, zu hinterfragen und zu deuten. Viele der Denk- und Handlungsmuster in Hin­sicht auf die Lebensweise und das gesellschaftliche Miteinander wurden in Gesprächen mit Gemeindemitgliedern nachträglich, von ihnen selbst, immer auf die alevitischen Glaubenswurzeln zurückgeführt. Da es im gesamten Verein kaum Geistliche gab, wurde ich bei religiösen Themen immer häufiger in Anspruch genommen. Immer wenn Diskus­sionen bzw. Unsicherheiten nicht nur im Vorstand, sondern auch unter den Mitgliedern im Raum standen, wurde mein Rat eingeholt. Jede Begegnung mit Mitgliedern führte zu einer Auseinandersetzung mit religiösen Themen. Sowohl Vorstand des Vereins als auch Mitglieder wissen, dass ich geistlicher Abstammung, also Nachkommin der „ehl-i beyt“3-Familie bin und durchaus auch darum bemüht bin, dem „Weg“4, soweit wie mög­lich, gerecht zu werden. Mit der letzten Vorstandswahl im Juni 2013 bin ich einstimmig zur Vorsitzenden des kleinen Geistlichenrates gewählt worden.

Bei den Aleviten besteht Einigkeit darüber, dass Frauen und Männer in jeder Hinsicht gleichberechtigt sind, jedoch unterschiedliche Aufgaben und Rollen haben, denen sie im irdischen Leben gerecht werden müssen. Genau diese Einigkeit über die Gelichberech­tigung erlebe ich im Alltag in der Rolle und Funktion als Ana.

Insbesondere die Migration der Aleviten nach Deutschland und anderen europäischen Ländern hat sie von den Glaubenstraditionen entfremdet und nach Identität und Selbst­darstellung in der jeweiligen Gesellschaft suchen lassen. So kam es, dass viele Aufga­ben und Rollen von Dede/Pir, Ana und Talip verwechselt und falsch, d. h. entfernt von dem   eigentlichen   Glaubenskern,   definiert   werden.   Die   Gleichstellung   von   Mann   und

Frau, die im alevitischen Glaubensverständnis vorherrschend ist, dient in allen aleviti-schen Selbstdarstellungen, insbesondere auch im europäischen Ausland, dazu, sich als humane und an Gleichberechtigung orientierte Glaubensrichtung zu präsentieren.

In der Tat ist eines der höchstens Glaubensgüter im Alevitentum die Gewissheit, dass Frauen und Männer vor Gott und auch im alltäglichen Leben gleichberechtigt sind. Der Fehler in den Selbstdarstellungen und neueren Beschreibungen rund um das Aleviten-tum allerdings liegt in der Behauptung, dass auch Frauen Cem-Zeremonien (alevitische Gebetszeremonien) durchführen dürfen. Möglicherweise erklärt sich diese Fehlein­schätzung durch den Wunsch nach Anerkennung als moderner Glaube in der hiesigen Gesellschaft, zumal die traditionellen alevitischen Glaubensgrundlagen durch die neue Lebensweise (durch Unwissenheit, aber auch dem Wunsch nach Anerkennung „als po-sitiver islamischer Glaube“) zunehmend in den Hintergrund rücken. Vernachlässigt wird der Grundsatz, dass der alevitische Glaube auf dem Pir-Talip-Verhältnis beruht und die Rollen- und Funktionsträger dementsprechend unterschiedliche Aufgaben haben.

Im „Buyruk“5 werden die Geistlichen als Träger des göttlichen Wissens benannt. Daher, so wird ausgeführt, sind einzig die Geistlichen dazu prädestiniert, den religiösen Weg zu weisen. Die Autorität der Geistlichen wird so weit ausgelegt, dass alle anderen, die sich anmaßen, den Weg weisen zu können, vom Weg abgeirrt sind.

„‘Auf dem Pfad und bei den Grundpflichten kann man klug oder dumm (oder vollkommen und unwissend) sein‘. Unwissende, nicht von Mu-hammed-Ali abstammende Pire dürfen keine Gefolgschaftshuldigung er­fahren oder Führung beanspruchen. Ihre Reue ist ungültig. Sie dürfen keine Schüler aufnehmen oder Gelöbnisse annehmen. Sie sind wider das religiöse Gesetz, wider den mystischen Pfad, wider die Erkenntnis und wider die Wahrheit. Denn sie sind nicht bis zur Quelle des Wassers vorgedrungen. […] Deshalb darf niemand, der nicht von Muhammed-Ali abstammt, Scheich oder Pir sein, Schüler annehmen oder Verfügungen treffen. Ihr Gelöbnis ist ungültig. Was sie essen, ist unrein, was sie schlucken ist verdorben.“6

Neben der Anweisung, dass ausschließlich die Nachkommen der „ehl-i beyt“-Familie für die religiöse Wegweisung in Frage kommen, wird deutlich, dass in der heiligen Schrift ausschließlich die Rede von einem männlichen geistlichen „Pir/Dede“ ist. Eine Schluss­folgerung aus dieser kurzen Darlegung ist, dass die Geistlichkeit nur mit den Männern der „ehl-i beyt“-Familie Fortbestand haben kann und dass eine Ana (weibliche Nach­kommin der „ehl-i bey“-Familie) eine andere Funktion und Rolle hat als der Pir/Dede.

Da ich selber der „ehl-i beyt“ zugehöre und mit dem Thema von Rolle und Funktion von Geistlichen im Elternhaus groß geworden bin und in der Öffentlichkeit (weitestgehend alevitische Gemeinden) mit dem Thema der alevitischen Geistlichkeit ständig in Berüh­rung komme, habe ich mich innerlich und wissenschaftlich mit „Dedes“/„Pirs“ und „Anas“ auseinandergesetzt.

Geistliche alevitische Frauen, also Analar7, haben die Aufgabe, ihren Ehemann, den Pir, in jeder Hinsicht zu vervollständigen. Erst wenn sich der Pir in einem Ehebund be­findet und beide sich unter der Bezeugung/dem Gelöbnis und dem Segen des eigenen Pir das „Ikrar“ (Gelöbnis) geleistet haben und sich entsprechend treu verbunden blei­ben, ist der Pir, aber auch die Ana, als Person vollständig. In der Zeit des Alleinstehend­seins sind dementsprechend sowohl Frauen als auch Männer nach alevitischem Ver­ständnis unvollständig. Die Vollständigkeit wird durch die Einheit und Verschmelzung der Eheleute erreicht. Als Symbol für dieses Verständnis wird häufig das Beispiel eines Apfels genannt. Mann und Frau seien jeweils eine Hälfte vom Apfel. Erst wenn beide in Verbundenheit sind, ist die Frucht ein Ganzes.

Die Vorstellung, alevitische Frauen seien im alevitischen Glauben zwar gleichberechtigt, dürften aber keine Cem-Zeremonien abhalten, ist heute jedoch für viele, wegen der oben benannten Faktoren, nicht mehr selbstverständlich. Die Tatsache, dass Anas kei­ne Cem-Zeremonien leiten dürfen, wird daher fälschlicherweise vielfach als eine verhin­derte Gleichstellung von Mann und Frau gedeutet. Verkannt wird, dass die alevitische Frau der Glaubensauffassung nach, eine sehr hohe Wertschätzung, die sogar höher als dem alevitischen Mann gegenüber ist, genießt. Die hohe Stellung der Frau wird am Bei­spiel der heiligen Fatima (Tochter des Propheten Muhammed und Ehefrau des Imam Ali) deutlich. Im alevitischen Glauben ist Fatima Beispiel für göttliche Manifestation. Sie war diejenige, die noch bevor es das Sein (das Irdische) gab, da war und in ihrer Person die gesamte „ehl-i beyt“-Familie verkörperte, sodass den Überlieferungen nach der Pro­phet  Muhammed  die  Krone  auf  ihrem  Haupt  war,  der  Imam  Ali  ihre  Lenden  mit  einem

Gürtel umwickelte und ihre Söhne Imam Hasan und Hüseyin die Ohrringe rechts und links an ihren Ohren symbolisierten. Fatima ist das Leben, die Manifestation der göttli­chen Wahrheit. Dementsprechend werden nicht nur Analar, sondern Frauen generell als Inhaberinnen der Fatima-Schönheiten nach alevitischem Verständnis geschätzt und geehrt. In der Konsequenz heißt dies grob, dass die Gleichberechtigung im alevitischen Glauben sehr groß geschrieben wird. Weder Mann der Frau,noch Frau dem Mann über­legen ist, jedoch (und hier trifft es den entscheidenden Punkt) jede Rolle mit unter­schiedlichen Funktionen und Aufgaben besetzt ist. So ist es eben der Pir, der als einzi­ger prädestiniert ist, Schüler („Talipler“) anzunehmen und den geistlichen Weg zu wei­sen. Im Buyruk, heißt es, dass die Betreuung von Talipler (Schülern) immer nur vom Pir als verantwortlichem Wegweisenden ausgeführt werden kann. Sicherlich könnten Dedeler/Pirler8 den Weg der Derwische wählen und in Abgeschiedenheit die Einheit und geistige Verschmelzung mit Gott suchen. Da Dedeler/Pirler allerdings als „Seyid-i Saa-det Evladi Resul“ („gesegnete Nachkommen des Propheten und seines ehl-i beyt“) und als Lehrer der Schüler („Talipler“9) geistige Führungsaufgaben besitzen, ist ihnen der „einfachere Weg“, in erster Linie nur auf die Einhaltung des eigenen richtigen Glau­bensweg bedacht zu sein, nicht möglich. Vielmehr wird gefordert, dass der alevitische Glaubensweg eigens gerecht eingehalten wird (denn auch jeder Dede/Pir muss sich vor seinem eigenen Pir verantworten und Rechenschaft über seine eigenen Handlungen ablegen) und dass durch spirituelle und geistliche Führung der Talipler eine recht han­delnde Gemeinschaft entsteht. Der Talip muss hierfür möglichst im Einklang mit seinem Pir agieren, denn nur durch eine Einheit mit dem Pir kann eine Vervollkommnung und damit die göttliche Einheit erlangt werden.

„Imam Cafer es-Sadik verkündete: ,‘Ein Schüler ist jemand, der seinem Gefährten und Erzieher gegenüber einen Eid abgelegt hat und mit ihnen dieselbe Sprache spricht.‘ Die Schüler der Sippe des Muhammed Ali müssen sich einen Tutor und Gefährten wählen, das Gelübde ablegen und sich das Ziel setzen, den Weg zu Gott zu bejahen. Nach Imam Ca­fer es-Sadik bedeutet das Islamische Gesetz, das Richtige zu kennen, der mystische Pfad, das Richtige zu tun, die Erkenntnis, den rechten Weg zu wählen, und die Wahrheit, zu Gott zu gelangen. Ein Schüler muss jedes dieser Vier Tore sehr gut kennen. Ein Schüler folgt dem Tu- tor, fügt sich dem Gefährten. Ein Schüler nimmt sich einen Pir aus dem Stamm des Muhammed-Ali. Er lernt – in den Händen des Pir geformt – die Regeln und den Weg. Er befolgt bedingungslos die Befehle des Pir. Ein Schüler handelt nicht gegen die Worte des Pir. Ein Schüler bestätigt mit seiner Zunge und glaubt in seinem Herzen. Er weiß um Muhammed­Ali. Er geht auf dessen Weg und befolgt dessen Regeln. Bei all seinem Tun bittet er um das Wohlgefallen Gottes und handelt nicht dagegen. Wenn ein Schüler dem Pir nicht gehorcht, den Leiter und den Gefährten nicht anerkennt, die Vier Tore nicht kennt, sich nicht völlig dem mysti­schen Pfad hingibt, hat er bereits den Weg und die Gemeinschaft ver­lassen. Die Worte solcher Schüler sind falsch, ihre Gelöbnisse ungültig. Sie haben sich von allen Vier Toren abgewandt. Ihre Eide, ihr Reden sind unwirksam. Ihre Gesichter sind schwarz, denn sie sind Lügner und Abtrünnige, die vom Weg Gottes verstoßen worden sind.“

Dieser gemeinsame Weg sichert – bei beidseitiger, verantwortungsvoller Einhaltung der Pflichten und göttlicher Hingabe – nicht nur das Erreichen der Vervollkommnung und die göttliche Einheit, sondern hat auch eine soziale und gerechte Lebensordnung in der Gesellschaft zur Folge. Interessant an den Ausführungen über die Aufgaben eines Schülers auf dem Weg zu Gott ist nicht nur, dass der Schüler den Weisungen des Pir folgen muss und auf andere Art und Weise Gottes Weg nicht begehen kann, sondern auch die Tatsache, dass im Buyruk die Frau als geistliche Führerin von Talipler nicht erwähnt wird.

Geistliche Führung heißt in der Konsequenz auch das Leiten eines Cem. Ein ganz be­sonderes Gut des Cem ist der „Pir Imam Hüseyin Postu“ also der „quasi“ heilige Thron des Pir Imam Hüseyin (Enkelsohn des Propheten Muhammed), welcher durch ein Schafsfell symbolisiert wird. Auf diesem Thron des Pir Imam Hüseyin nimmt der Pir Platz, um die Cem-Zeremonie zu leiten. Dieses Fell, welches den genannten Thron symbolisiert, ist Voraussetzung für ein Cem. Kein Fell, also kein Thron und damit kein Pir Imam Hüseyin und als letzte Konsequenz kein Cem. Kaum einer darf sich auf diesen Thron (das Schafsfell) setzen. Selbst der Pir/Dede muss ein weiteres Gelöbnis dafür ablegen und sich vor seinem eigenen Führer, dem Pir, dafür verantworten und das Ein­verständnis dafür erhalten haben. Der Pir ist in dem Moment des Cem Vertreter von Pir Imam Hüseyin.

In den letzten 50 Jahren hat es hin und wieder eine Frau gegeben, die die geistliche Führung im Cem übernommen hat, jedoch immer unter der Prämisse, dies stellvertre­tend für ihren verstorbenen Ehemann und zur Betreuung der Talipler zu tun. Diesen Ausnahmen begegnet man in der Geschichte jedoch nur aufgrund der Tatsache, dass der Ehemann, welcher als Pir diente, früh verstorben war und die eigenen Söhne noch nicht erwachsen genug waren, um dieses Amt auszuüben. Beispiele aus der Vergan­genheit zeigen, dass die Ana, welche zum Beispiel ein Cem leitete, ihren fünf Jahre al­ten Sohn auf das Schafsfell (den heiligen Thron des Pir Imam Hüseyin) setzte und stell­vertretend für den Sohn das Cem lediglich sprachlich führte. Insofern war der Sohn qua­si Leiter des Cems und die Mutter das Sprachrohr ihres Sohnes.

Faktisch haben (geistliche alevitische) Analar die Aufgabe, ihren Ehemann, den Pir, in jeder Hinsicht zu vervollständigen (der Pir hat seiner Frau gegenüber natürlich ebenso eine Vervollständigungspflicht) und durch diese Einheit eine möglichst gute Betreuung der Talipler zu gewährleisten. Dies heißt mit anderen Worten, dass die Ana zu allem in Hinsicht auf religiöse Bekundungen/das Sprechen von Segensworten etc. befugt ist. Diese Aufgaben übernimmt die Ana (die sich in diesem religiösen Bündnis versteht) im Alltag auch vielfach. Aufgrund ihrer anderen Funktion wegen, nimmt sie lediglich nicht auf dem „Pir-Post“ Platz und übernimmt damit keine Leitung eines Cem.

All diese Ausführungen sollen nicht zu einem Verständnis führen, dass nicht auch Frau­en häufig, genau wie der Dede/Pir göttlich mit besonderen Aufgaben gefordert sind. Hier sei wieder die heilige Fatima erwähnt, die als Symbol für die göttliche Offenbarung (ehl-i beyt) verstanden wird. So ist es beispielsweise auch üblich, dass es immer wieder Be­richte gibt, die wundersame Heil- und Tatkräfte bei einer Ana bezeugen. Es gibt daher zahlreiche alevitische (geistliche) Frauen, die sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart durch ihre Wundertaten und große göttliche Nähe bekannt sind.

Meine bisherigen Ausführungen sollen lediglich als eine Darstellung von unterschiedli­chen Rollen/Aufträge von Frauen und Männern im alevitischen Glauben, welche weder als Benachteiligung noch als Bevorzugung zu bewerten sind, gedeutet werden. Der Wunsch nach Anerkennung der hiesigen Gesellschaft kann sich ohne Weiteres auf der Grundlage der alevitischen Grundwahrheiten, die auf den Werten der Toleranz und der Humanität beruhen, erfüllen. Eine aufrichtige Darstellung des alevitischen Glaubens ist dafür völlig ausreichend. Der Anerkennungswunsch bedarf keiner neu erfundenen Glaubenspraxis, die absolute Werte des Glaubenskerns missachtet.

Als alevitische Geistliche fühle ich mich gleichberechtigt und geschätzt. In jeder Runde, in der es um geistliche Themen geht, werde ich, so wie alle anderen männlichen Geistlichen auch, berücksichtigt und gehört. Themen werden gemeinsam beraten und ge­meinsam bestimmt. Im Alltag des Gemeindelebens erkläre ich häufig den alevitischen Glaubensweg, spreche Segensworte und erfülle viele weitere geistliche Aufgaben. Be­müht bin ich, dem Talip – bei seinem Wunsch Erkenntnisse auf dem alevitischen Glau­bensweg zu gewinnen – behilflich zu sein. Gleichwohl gibt es das benannte Pir-Talip-Verhältnis, welches für das Gehen des alevitischen Glaubensweges (wie bereits er­wähnt) unerlässlich ist. Daher unterstütze ich zwar da wo es mir möglich ist, weise je­doch immer auf die Wiederbelebung der Beziehung zur Pir-Kernfamilie hin. Die Pir-Kernfamilie trägt nämlich die eigentliche Verantwortung für die Talip-Familie und umge­kehrt trägt die Talip-Familie die Verantwortung für die zuständige Pir-Familie (Es ist ein vor Jahrhunderten gegebenes Gelöbnis unter Familienstämmen. Dieses Gelöbnis ist die Trägersäule des Glaubens. Da diese Beziehungen jedoch häufig aufgrund von Migration und/ oder anderen Umständen einen Bruch erlitten haben, gilt es diese Beziehungen im Sinne einer lebendigen alevitische Glaubenspraxis wiederzubeleben.

Aynur Kücük 07.07.2013

Überarbeitete Fassung aus:

Kücük, Aynur (2013): Rolle und Funktion einer Ana im Alevitentum. Ein Beitrag zum IslamDis­kurs in Europa. In: Eißler, Friedmann (Hg.): Aleviten in Deutschland. Grundlagen, Verände­rungsprozesse, Perspektiven. 2. Auflage, Berlin: Evangelische Zentralstelle für Weltan­schauungsfragen, S. 158-164.

 

1 „Pir“ bedeutet „spirituell“ und bezeichnet einen geistlichen Führer, der durch seine Abstammung vom Propheten Mohammed und vom Imam Ali und damit durch die Zugehörigkeit zur „ehl-i beyt“-Familie prädestiniert ist, Schüler anzunehmen, vgl. Bozkurt 1988, S. 23 ff. „Talip“ bedeutet: „Schüler“, „Strebender auf dem Weg zu Gott“, vgl. Bozkurt 1988, S. 38-43.

2   „Aleviten praktizierten takiye, das Verbergen der eigenen Zugehörigkeit. Takiye ist eine defensive
Strategie, die das Ziel hat, nicht aufzufallen, und die verwendet wird, um in einer ablehnenden und potentiell
feindlichen Umwelt, die Verleumdungen für bare Münze nimmt, möglicher Verfolgung zu entgehen“,
Sökefeld 2008, S. 9.

3 „ehl-i beyt“ ist die Familie des Propheten. Zur Familie des Propheten zählt der heilige Imam Ali, die heilige
Fatima, der heilige Hasan und der heilige Pir Imam Hüseyin. Nur die „ehl-i beyt“-Familie und deren
Nachkommen sind auserwählt, den alevitischen Glaubensweg zu weisen.

4 „Weg“ bedeutet, „dem alevitischen Glaubensweg“ gerecht zu werden.

5   „Buyruk“ („Gebot“) ist das wichtigste alevitische Buch nach dem Koran, welchem alle alevitischen
Glaubens- und Verhaltensregeln zu entnehmen sind. Es ist die Offenbarung des Imam Cafer-i Sadik, des 6.
Imams der 12 Imame.

6 Vgl. Bozkurt 1988, S. 24.

„Analar“ ist der Plural von Ana.

„Dedeler“/„Pirler“: Plural der männlichen alevitischen Geistlichen.

„Talipler“: Plural von Talip

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